Janinas Corona-Tagebücher
Katastrophen Sehnsucht
Morgens nach dem Aufwachen ist die Welt noch eine Scheibe. Eine glatte Oberfläche, ein leeres Blatt.
Morgens ist man für viele Minuten im Nest, bevor man sich vom Traum ablöst, aufsteht und zur Arbeit geht.
Doch was ist das da draußen: Spielende Kinder in den Gärten.
Väter, die mit Straßenmalkreide Viren an die Hauswand malen.
Mütter am Rasen mähen.
Es ist kein Sonntag.
Es ist Mittwoch und es ist Corona-Time.
> WOCHE 1
Wir bauen Büros in begehbare Kleiderschränke.
Wir googeln morning routines.
Wir googeln Basteltipps, Backmischungen, und melden uns bei Netflix an.
Wir scannen die Nachbarschaft nach Gefährdeten und Gefährdern.
Bieten der Omi, deren Namen wir nicht kennen, unsere Hilfe an. (Sie will sie nicht. Noch nicht.)
Und kaufen Wein und Klopapier.
Also in Frankreich Wein, in Deutschland Klopapier.
Und wir lachen über die neuen Abstände zwischen uns.
Begrüßen uns mit Ellbogen.
Amüsiert.
Nichts ahnend.
MINIMALE MUNDÖFFNUNG
Social Distancing.
Ist schon jetzt Wort des Jahres 2020.
Ich muss heute in den Supermarkt. Der Ketchup ist leer.
Ich werde nervös.
Irgendwie denke ich, dass es im Bio-Markt sicherer ist.
Bio Ketchup – da sind doch auch Tomaten drin.
Aber: Ich muss darüber hinaus noch Haargummis kaufen (es gibt hier im Haus kein einziges), also erst mal zu Budni.
Der Budni ist ein stilles Örtchen: Die Hintergrundmusik ist aus.
Nur das Blockieren der Räder der fahrenden Abstandshalter hört man. Und Fußgetrappel.
Menschen verhalten sich wie Popcorn zwischen den Regalen, bouncen herum, zucken Gliedmaßen, senken Blicke und drehen sich weg.
Als könnten Blicke töten. Diesmal wirklich.
Keine Grußworte, kein Nicken, reduzierte Körpersprache.
Beim Grüßen könnte Saliver austreten. Ich fühle mich wie in einem Undercover-Spiel, als wäre ich ein Objekt auf einem Wärmeradar.
Hinter labbrigem, improvisiertem, an einer Dachlatte festgetackertem „Spritzschutz“ aus … – es sieht aus wie ein Duschvorhang … ich denke es ist … Frischhaltefolie – sitzt eine blasse Kassiererin. Sie öffnet den Mund minimal: fffff-i–r, und zeigt mit Putzhandschuhen auf das Display.
Was?! Die Haargummis sollen vier Euro kosten! Was!?! Ich hoffe die Haargummi-Fabrik muss schließen.
Ich möchte mich aufregen und auf den Boden spucken.
Ich darf es nicht 🙁
HINTERGRUNDMUSIK
Ich rechne mir aus, dass im Demeter-Markt noch weniger Menschen als im Bio-Markt sein könnten.
Ich beschließe also, in den Demeter-Markt zu fahren, um mich sicher zu fühlen.
Hier ist es schön. Menschen tragen Prada und weiße Handschuhe.
Sie warten hinter den Obstkörben und kennen sich mit Vornamen.
Und es läuft Hintergrundmusik. Aber nur leise. Damit man es nicht vergisst.
Alles hier kostet allerdings 80 Euro.
Ich kaufe mir eine Backmischung. Das muss für eine Woche reichen.
Ich vergesse den Ketchup, vermisse ihn später.
EINWURF > ZURÜCK IN „UNHAPPY“
Die Nachbarschaft meiner Eltern ist nice.
Sie liegt zwischen Raps und Roggenfeldern. Nachbarn pflanzen Tulpen auf jedem Flecken.
Zwischen die Lücken des Bürgersteigs.
Aber sie grüßen nicht.
Kein Moin, kein nicken. Resonanzloch Vorstadt.
ch probiere einer Frau vors Auto zu rennen.
Sie grüßt nicht. Sie fährt auch nicht drüber.
Sie hat keine menschliche Reaktion.
Ich nenne diese neighborhood „unhappy“.
Soll ich Yoga in unserem Garten anbieten?
Oder ist das too much?
Wird mir jemand seinen Hund leihen?
Oder bin ich zu fremd?
Der Postbote klingelt und rennt.
SCHAFE UND WÖLFE
Die News laufen schon mal vor.
The BIG C auf allen Kanälen.
Zahlen Zahlen Zahlen.
Doch nicht.
Korrigierte Zahlen Zahlen Zahlen.
Grenzen klappen zu.
Bundeslandinterne Grenzen klappen zu.
Touristen sind nicht willkommen.
So steht es auf großen Schildern auf den unsichtbaren Autobahngrenzen dieses Landes.
Meine Schwester reist im Kofferraum eines Transporters mit Meck-Pomm-Kennzeichen über die Meck-Pomm-Grenze. Sie werden von Binnen-Grenzbeamten kontrolliert.
Sie ist zwar riesig unter dem Umzugsvlies, aber still. Sie kommt durch.
Ich sehe sie drei Wochen nicht.
Meine Psyche kollabiert.
Ich bleibe alleine, mit 36 Jahren, bei meinen Eltern zurück.
DIE BÜRGER
werden still. Sie halten sich dran. Sie mucken nicht auf.
Ich telefoniere mit Rom, Prag, Wien, Barcelona, Los Angeles (zu diesem Zeitpunkt glaubt man noch nicht an Corona), Wellington, Peking, Kopenhagen, Teheran. ( > s.u. Ich telefoniere mit Griechenland )
Alle machen mit.
Alle bleiben drin.
Ich wundere mich.
Was ein Staat alles so kann.
Wie es ist, wenn man einen Rahmen bekommt.
Wenn man kollektiv verwirrt ist. Wenn man Rat sucht, um ihn einzuhalten.
Mehr Anpassung als Verwirrung, mehr Schafe als Wölfe.
Nur eine Gruppe „Jugendlicher“, die Renegades und Gesundheitssystemsprenger, stehen laut rauchend (wie kann man so laut rauchen?) und unruhig mit langen Gliedmaßen auf dem Parkplatz (vorm Budni) und haben keinen Anhaltspunkt.
Sie machen, was Jugendliche so machen. Sie grenzen sich ab, sie scheißen drauf.
Ein alter Mann ruft die Polizei.
Er will jetzt auch mal etwas tun.
Ich wundere mich.
Und gehe weg.
DIE WELT IST KRANK
Unilever-Manager, Großeltern, Sportler, die Polizei, Olli Pocher und fast die Kanzlerin.
Alle kriegen etwas ab.
(Außer Donald T., hoffen wir das beste.)
Was in Russland „Lungenentzündung“ heißt, hat hier einen Namen: „Corona“.
Corona klebt an Händen, Gemüse, Kindern, Tieren und es hängt in der Luft. Es kommt durch die Lücken der Gesichtsmaske, es ist unsichtbar, ein Viren-Roulette (ein chinesisches, kein russisches s.o.)
Es setzt die Wirtschaft außer Kraft, wer hätte das gedacht.
Es verwandelt Dörfer und Vorstädte in Krisengebiete und Macron spricht von „Krieg“.
Die News sind lückenlos infiziert.
Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass, wer hier noch nicht weiß, was in Griechenland, dem Jemen, Libyen, um nur einige „andere“ Katastrophengebiete zu nennen, los ist, der hat zu viele Nachrichten gesehen.
Hier sterben wir an Corona. Tausende pro Tag. Aber wer liefert die Zahlen aus Ländern, EUROPÄISCHEN Ländern, so akribisch, so akkurat, so euphorisch von hinter den Grenzen des übrigen Europas?
45 Kinder wurden evakuiert. Von über 25.000 Menschen. Allein nur in Moria.
Nachdem Unicef, Ärzte ohne Grenzen, und all die zahlreichen unbekannten NGOs und Hilfsorganisationen, die normalerweise helfen, so lange schon um Hilfe schrien.
Während Billionen freigemacht werden und selbst die braven Theaterpädagog*innen sich 9000 Euro + 2000 Euro Sorforthilfe unter ihre armen Künstlernägel reißen, wir in unseren Gärten warten, bangen, smsn, kocht in, sagen wir mal zum Beispiel Griechenland, die Hölle.
Ich habe mit einer Freundin auf Lesbos bei Anwälte ohne Grenzen gesprochen.
Sie musste ausreisen, zu gefährlich für Helfer. Sie arbeitet jetzt von Prag aus,
sucht per Telefon die Leiche eines Babys, welches in den Müll geschmissen wurde.
Sie organisiert aus der Ferne frisches Essen für schwangere Frauen, die in ihren Zelten im Wald liegen und den Weg ins Camp, geschweige denn auf die Krankenstation, nicht mehr schaffen.
Sie telefoniert mit Kindern, die ihre Eltern suchen, Eltern, die ihre Eltern suchen.
Sorry, aber auch das gehört tatsächlich hierher.
Dafür ist die Spargelernte gesichert!
Lecker!
LIEBE IN ZEITEN DER CHOLERA
Mein Freund sitz hinter einer Grenze.
Dänemark war als erstes zu. Hektisch suche ich nach meinem dänischen Pass, den ich bisher nie benutzt habe. Bin immer, weil ich eher deutsch bin, mit meinem deutschen Pass rein. Und wieder raus. Oder halt ohne Pass, so wie es früher oder im Märchen einmal war.
Jetzt will ich das Dokument auf seine Passform testen. Wir rufen die Grenzpolizei an. Beide Seiten. Es sollte klappen.
Ich buche ein Sommerhaus über Airbnb am Strand.
Meine Mutter reagiert auf die Idee allerdings hysterisch besorgt. Vor allem, weil mir bei meinem letzten DK-Besuch mein Auto komplett zerstochen worden ist und ich diesmal mit deutschem Kennzeichen so richtig auffallen würde.
Meine Schwester ruft an. In Meck-Pomm machen die, – wir wissen schon wer –, Jagd auf Autos mit „ausländischen“ Kennzeichen. Wer nicht Meck-Pommer ist, ist illegal.
Ihr Freund wird beschimpft, er solle nach Hause gehen. Er ist Schweizer und versteht kein Deutsch.
Meine Mutter findet eine Seite, auf der steht, dass ich in zweiwöchige Quarantäne muss, wenn ich zurück nach Deutschland komme. Sie hat keine Lust mir Essen an die Zimmertür zu liefern.
Ich rufe die Grenzpolizei zum fünften Mal an. Es stimmt.
Ich fahre nicht.
Mein Freund weint auf Skype.
Er hatte schon eingekauft.
DIE TIERE WISSEN VON NICHTS
Ob die Tiere etwas merken?
URLAUB IN ZEITEN DER CHOLERA
Ein entfernter Freund einer Freundin ist neu in Hamburg.
Ich kenne ihn kaum.
Er wird mein Urlaub. Jeden vierten Tag treffen wir uns in der „Zwischenwelt“ und machen Urlaub.
Die Zwischenwelt ist ausgerechnet Wilhelmsburg.
Ein matschig moorastiges Niemandsland genau 20 Minuten zwischen ihm und mir.
Hier schauen wir Sonnenuntergänge (nur einmal kreuzte ein Flugzeug durch), essen ekelhafte Snacks von der Tanke und spielen, dass wir Verschwörungstheoretiker sind. Er ist immer Xavier Naidoo und ich Cindy Moped.
Manchmal spielen wir auch, dass wir Coaches sind. Und coachen unsere imaginären Start-up-Unternehmen der Zukunft.
Er ist der einzige analoge Mensch in meinem Alter, den ich für sechs Wochen sehe.
SHOPPING IN ZEITEN DER CHOLERA
Selten
Alle Schuhe in 36 sind bei Zalando ausverkauft.
Wenn ich wieder frei bin, wird es Sommer sein.
Ich habe nur noch meine Moon Boots …
Neulich beim Suchen der Sauna-Beleuchtung habe ich das Klopapier-Lager meiner Eltern entdeckt.
Mindestens acht Sixpacks.
Beim Suchen einer Heckenschere im Gartenhaus stoße ich auf eine Konserven-Truhe, voll mit sauren Gurken und Wiener Würstchen.
Meine Eltern tun also nur so cool!
In Wirklichkeit sind sie Prepper und Horter.
Ich wusste es!
ENTSCHLEUNIGUNG
„Auf dem Sofa sitzen und zocken, den Virus rasieren“ Kapital Bra (Berühmter Rapper)
Unser automatischer Staubsauger hat einen Gang, der heißt „Entschleunigt“.
Nicht, dass er normalerweise voll auf Speed wäre, aber im Almost-Sleep-Mode putzt er bedachter und saugt nicht überall gegen. Oder bricht sich oder anderen Gegenständen etwas. Das Radio fragt: „Was machen Sie denn mit der Zeit, was machen Sie denn, wenn jetzt alles langsamer ist?“
Ich finde nicht, dass die Zeit einem jetzt fett morgens auf dem Toast liegt und zu Brettspiel und Federball einlädt. Ich bin ja auch kein Arzt*Ärztin, Supermarktkassierer*in, Bäcker*in, Postbot*in, Apotheker*in, Klemptner*in, Pfleger*in, Altenpfleger*in oder alle andern, die jetzt auf Turbostufe saugen.
Hinter faradayischen Plexiglaskäfigen, Absperrungen wie an einem Tatort, mit wehem Pinzettengriff vom Sprühen der Desinfektion.
Trotzdem finde ich nicht, mehr Zeit zu haben.
Ich werde aus der Artist-Community mit Ankern beworfen: Hier ein Podcast, dort soll ich Liedertexte schreiben, ein Tanz-Video drehen, hier Drehbücher für Spielfilme lesen, dort bitte eine Live Sendung egal über was, und noch ein Cover please.
Wozu Wozu Wozu. Anderseits: Was sonst was sonst was sonst?
Heute morgen war ich im Wald spazieren. Ich habe eine Abzweigung genommen, die weitläufig aussah.
Denn ich habe ja offiziell Zeit. Ich war in der ganzen Zeit, in der ich hier wohnte, noch nie da.
Hier wohnte ich also!
Ich wanderte durch Baumschulen, Kiesgruben, Wald und Heide, gelangte an Seen und selbstgebaute Brücken. Wie ein Vorstadt Herr der Ringe.
Plötzlich wusste ich: Ich möchte ein Reh sein.
Ich will jetzt keine angestrengte Kunst machen, ich will keine virtuelle „Masterclass“ mit Werner Herzog oder der NASA machen, nur um nicht abgehängt zu werden, weil mein Umfeld jetzt acht Sprachen und Harfe lernt. Also wie immer eigentlich, nur mit dem Silvester-Effekt, dass man diesmal keine Ausrede hat, die Vorsätze gegen das Abhängen einzutauschen.
Ich will ein Reh sein und alte Musik hören. Mich von Facebook abmelden und Selen nehmen.
Vielleicht einen Roman lesen, den ich danach wieder vergesse.
Ich habe Foucault dabei und Derrida. Ich will lieber etwas pflanzen. Die langgestreckte Zeit, gepaart mit der ersten Sonne, macht mich trivial, aber erdiger. Ein Klumpen Erde. Ich würde lieber unter der Rinde eines Baumes wohnen als in einem gestapelten Schuhkarton in der Corona Lunge der Stadt.
Ist es das, was „Entschleunignug“ bedeutet? Zu wissen, dass man in Wirklichkeit ein Reh ist?
Ich vergesse die tödliche Bedrohung von Corona, ich vergesse die Bedrohung generell.
Die Menschen werden sich Hunde kaufen. Und aufs Land ziehen. Sie werden nicht mehr arbeiten wollen. Können. Sie werden nur noch ihre Körper pflegen wollen. Und im Sonnenaufgang Tai Chi machen.
Alle zusammen.
DOCH
werden sie wieder grüßen auf den Straßen? Werden sie sich küssen und um den Hals fallen? An den Kreuzungen, auf den Plattformen?
Ich sehne mich nach der Zeit, in der ich wieder alles wegkuscheln darf, was laufen kann.
Ich werde aus „der Zeit“ kommen mit einem Kuschel-Tourette.
Wenn das alles vorbei ist, sagt Dr. Ali, der von oben, werden wir an Ampelübergängen knutschen, werden Menschenketten durch Fußgängerzonen ziehen und Parties feiern wie im Olymp, weil wir uns wieder anfassen und aus Versehen anspucken dürfen.
Mir tun die Teenager leid. Sie werden um ihre natürliche Entwicklung gebracht, wenn das so weiter geht.
Wie soll man hemmungslos knutschen, wenn man sich nicht sieht oder immer erst: „Ist das Raucherhusten oder echt?“ fragen muss.
Auch die Kinder tun mir leid. Der kleine Sohn meiner Freundin, – ich darf sie nicht sehen, sie hat nur 60 Prozent Lungenkapazität und der Kleine hat auch schon Asthma –, denkt, er hat etwas Schlimmes gemacht, deswegen darf er nicht auf den Spielplatz. Er denkt, die Spielplätze sind wegen ihm gesperrt. Er ist drei Jahre alt, verwirrt und fühlt sich schuldig.
Und die Omis und Opis tun mir leid.
Das hört sich jetzt an wie ein Song von Tocotronic.
Wo Pessimisten und Heuler die einzigen Realisten sind.
Jeder hat seine eigene Zeit, seinen eigenen Song.
Ich möchte mal wieder mit euch singen …
DIE 90er
Als ich ca. 14 war, saß ich am Küchentisch und habe Auflauf gegessen.
Ich hatte 7./8. Stunde Geschichtsunterricht und war leicht aufgewühlt.
An der Macht war Helmut Kohl, Übergang zu Gerhard Schröder.
Ich will irgendwie dringend politisch sein, überlege, auf eine Demo zu gehen (leider gab es weit und breit keine).
Ich frage meine Mutter, ob sie mal auf einer Demonstration war.
Sie sagt, sie war damals ein richtiger Hippie und hat gegen den Vietnam-Krieg protestiert.
Mein Vater sagt, er hat für seine Frisur protestiert. Es hört sich an, als wären meine Eltern aus Hair – Das Musical.
Aber das waren wilde Zeiten damals.
Ich frage meine Oma und sie erzählt mir von vorne bis hinten ihren Krieg.
Sie kämpfte ums Überleben.
Das waren schlimme Zeiten damals.
Und was war mit mir? Als Kind der 90er gab es nichts zu kämpfen.
Und nichts zu fürchten.
Das Internet war noch ein leises Flüstern. Caught in the Act tanzten unschuldige Choreos komplett bauchfrei. Ohne dabei für Gay-Rights zu kämpfen, was daran lag, dass sie nicht gay waren.
Weil das Thema einfach keines war. Man durfte sein. Die Früchte der Emanzipation ernten.
Die 90er waren für mich eine süße lange Loveparade.
Und ich sagte zu meiner Mutter: „Krass (hat man das schon gesagt?), krass, wir sind voll sicher!“
Ich blickte mit meiner Mutter in den Auflauf wie in eine Wahrsagekugel und ich sah, dass es gut war, zwischen Erbsen und Kartoffeln die Zukunft stabil vor mir liegen.
Frieden Frieden. Etwas Hunger in Afrika und Diktatur, aber so weit reichte das Netz der Kugel damals nicht.
Meine Welt war so groß wie die Fernsehnachrichten. Und die liefen nicht auf VIVA.
Im Unterricht wurden wir gefragt, als was für ein Staatsbürger wir uns fühlen. Alle (außer Tülay) so: Deutsch.
Ich so: Hmm, ich habe zwei Pässe und ich möchte mal in London, Paris oder Jugoslawien wohnen. „Europäisch“ – habe ich gesagt.
Europa war ein Abenteuer für mich. Offene Grenzen, andere Sprachen. Essen Essen Essen. Ich besuchte so viele Länder wie möglich. Ging später in Dänemark auf die Europäische Filmschule.
120 junge Menschen aus 26 Ländern. Afrika, Palästina, Iran, Estland, Kolumbien, USA, Kanada, Grönland, Färöer Inseln, Mexiko und Transsilvanien. Alle mit einer Passion: Film.
Hier fühlte ich mich irgendwie ganz. Eine kleine Mini-Version der Welt.
Und ich dachte wirklich: „Love you all! Da kommt nichts mehr…!“
KATASTROPHEN SEHNSUCHT
2005 sind wir mal eingescheit gewesen und ich konnte nicht zur Uni gehen und nicht einkaufen, habe mich von Reis ernährt.
Und einmal sind vor Hamburg bei einem Orkan Bäume aufs Gleis gefallen und alle Manager und Nicht-Manager saßen stundenlang im Zug fest, ohne Bordlokal. Ich dachte, sie googeln Lobster und fressen ihre Laptops.
Einmal war Hochwasser auf Fanö und ich konnte die Fähre nicht nehmen, war alleine im Dezember auf einer Sturmflut-Insel und habe die ganze Nacht mein Haus nicht mehr gefunden bis es hell wurde.
Und einmal bin ich mit meinem dicken Pony in einen Gewittersturm geraten und weit und breit nur Felder. (Ich wusste nicht, was ich machen sollte, hatte kein Handy zum Googeln „Was tun auf freiem Feld bei Gewittersturm?“, bin also angehalten und habe uns beide erstmal ausgezogen, das Metall and Halfter und BH, Reißverschlüsse und Steigbügel… sind klitschnass und ohne alles im Stall angekommen.)
Schon die kleinsten Naturausschreitungen schalten den Survival-Modus ein. Da hat man etwas zu erzählen.
Wetter, da hat man keine Kontrolle drüber und fühlt sich so klein, wie man in Wirklichkeit ist.
Ein Nichts gegen das Firmament. Gegen die Winde. Die Ozeane. Die Hitze. Den Tod.
Ausgeliefert sein und den Allerletzten glauben, man könnte doch noch etwas reparieren. Doch noch etwas kontrollieren. Schaden vermeiden. Oder beten.
Dass da irgendjemand ist, larger than life, smarter than nature, die/der Mensch genug ist, alles wieder hinzubekommen, zu retten, rückgängig zu machen.
ODER
Hat sich etwa irgendwer heimlich nach einer Katastrophe gesehnt?
Nach einer Pause, einer Warnung, etwas Großem?
Die Prepper, die Hater, die Überarbeiteten, die Gelangweilten, die Control-Freaks, die Misstrauischen, die jungen Eltern, die Zukunftsfrommen, die Gamer, die Romantiker, die Nihilisten, die Unfokussierten, die Aktivisten, die Urlaubsorte, die Gewässer, die Luft?
Das es ausgerechnet eine Pandemie wird, stand so nicht in den Sternen.
Dass etwas so schnell an die Existenz geht mit ungewissem Ausgang – das sind die Ängste, die wahr werden.
>>>Einwurf
Ich habe mein Horoskop noch mal nachgelesen. Da stand nichts davon drin. Jetzt bleiben uns noch nicht mal mehr die Horoskope!
>>> Einwurf 2
Ich hab mir, als ich noch jung und nicht so naiv war wie heute, immer gewünscht, dass die Welt von Aliens angegriffen wird. Wie in Arrival. Dass alle Kriege stoppen müssen, dass alle an einen Tisch kommen und alle alles zusammen schmeißen, was sie haben. Geld, Waffen, Ideen, Egos, Essen und Vertrauen, um sich zu vereinen für ein Ziel.
Eine Pandemie ist ja noch mal was anderes …
Aliens please!
<<< Auswurf
„Apokalyptische Szenen“, verbarrikadierte Restaurants, leere Straßen, Füchse auf der Kö, Rehe auf den Champs-Elysées, Delphine in den Häfen und ein Krokodil. Die Tiere kommen, holen sich ihren Raum zurück.
Wenige Autos auf den Straßen. Keine Menschen weit und breit.
Still ist es, man hört die Vögel. (Oder ist das der Staubsauger?)
Die Katastrophe, die einen selbst nicht trifft, die Katastrophe, die gerade noch mal gut geht.
Man an ihr vorbei schreddert wie sonst auch.
Weil die da oben es unter Kontrolle haben.
Katharsis oder Katastrophe, die Wendung zum Guten oder Schlechten.
Ich habe keine Lust, hier weiter nachzudenken.
VIRALE KUNST
Vor sechs Wochen … ich pellte mich aus dem Queen-Kleid und zog wieder das Janina-Kostüm an, schob Kuchenteller mit Scone Leftovers und Clotted Cream in die Spüle und stopfte irgendwelche Sachen in meinen Rucksack. Ich wollte irgendwie schnellstmöglich an die frische Luft und auf die Autobahn. Eine Lehrerin sagt noch zu mir: „Nimm mal ein bisschen mehr mit!“, aber ich bin mit dem Händewaschen beschäftigt und höre sie nicht ganz im Gedonner des voll aufgedrehten Wasserstrahls. Ich rechne mir den Abbau aus und verstaue in meinem Kopf den Buckingham Palace hinter den FliKüZi-Vorhängen, um den nächsten Aufbau zu planen. Wir wollen nächste Woche noch einmal die Revolution aufbauen…
Der Buckingham Palace steht noch immer. Die Tulpen sind wohl heimlich verwelkt.
Schon auf der Autobahn bekomme ich die Nachricht, dass die Schulen dicht sind, und ich denke nur an die Tulpen und die Teller, die von der Clotted Cream für immer zusammenkleben werden.
Und ich denke an die Umstellung, die viele von uns jetzt erleben.
Und ich denke daran, warum ich nur eine Jeans und zwei Paar Socken mitgenommen habe.
Bevor die Lock-Down-Welle überhaupt los ging, kriege ich schon die ersten Songs, Dance Tutorials, Gedichte, Gemälde.
Eine Vorfreude auf einen vom Staat angeordneten begrenzten Raum eröffnet neue Möglichkeiten, legitim, ohne Lieferzwang.
Wie kann ich die Kinder weiterhin mit Kunst versorgen. Langweilen sie sich? Helfen sie ihren Eltern? Babysitten, Hausarbeit? Zocken sie? Machen sie Hausaufgaben? Oder malen sie sogar?
Mal doch mal ein Bild!
Der Chat mit der AG „Bilder des Tages“ zeigt eine heruntergefallene Busfahrkarte, Hausaufgaben, eine Skulptur mit Büchern und Stiften, eine Bleistiftzeichnung einer Vergissmeinnicht, – die anderen haben nicht mitgemacht.
ZOOM_MEETINGS (und Discord und Skype und Jitsi und WhatsApp und Telegram und Facetime und Hangouts)
Mit meinem Performance-Kollektiv probieren wir eine Choreo auf Zoom. Moona ist sehr schwanger und bei Sergej in Bulgarien ist die Leitung schwach, Fernando kocht nebenbei. Wir machen so fünf Minuten mit unseren Armen Spaß. Dann hat Eva keine Lust mehr. Und ich auch nicht. Wir tun so, als würden wir mit unserem Performance-Kollektiv in der Krise sein, dabei waren wir noch nie so viele beim Treffen.
Wir überlegen, ob wir eine virtuelle Modeshow machen sollen oder eine Karaoke-Party.
Dann ist bei Fernando das Essen fertig. Und im Hintergrund bellt ein Hund.
Es ist stressig, all die Dinge, die man sich seit Sylvester 2010 vorgenommen hat, nun endlich in vier (?) Wochen zu quetschen. Sich eine Harfe zu bestellen, sie jeden Tag zu üben.
Ich lerne jeden Tag zehn Gebärden und vergesse neun.
Ich überlege, einen Online-Kurs zu machen, aber kann mich nicht entscheiden, welchen.
Der Stress, diese EINMALIGE CHANCE, die ganzen aufgerissenen Projekte zu Ende zu bringen, befördert mich früh ins Bett.
EINE UMFRAGE (Instagram)
Machst du in C-Zeit mehr Kunst als normalerweise:
29% Ja
71 % Nein
Hast du mehr Zeit?
63% Ja
37% Nein
Freust du dich schon in die Realität zurück zu kehren?
58% Ja
42 % Nein
Hast du etwas Neues gelernt?
79 % Ja
21 % Nein
Fühlst du dich gestresst?
53% Ja
47 % Nein
Ich persönlich bin herrlich unkreativ.
Und ich habe noch nie Netflix vor Arte präferiert.
Es sei denn ich habe Fieber und liege krank im Bett …
EFFIZIENZ IN ZEITEN DER CHOLERA
Like a Boss möchte ich am Morgen sein. Ih möchte die Zeit nutzen, um ein (Prozent) High Achiever zu werden.
Das heißt, ich muss mir meinen Tag strukturieren.
Und Sport machen, sonst komm ich fett aus der Quarantäne wie ein Tourist in den eigenen vier Wänden.
Ich stelle mir um acht den Wecker, snooze ihn zwei Mal, mache eine Atemtechnik, schlafe wieder ein, wache um neun auf, hole mir ein Glas warmes Wasser, schreibe zwei Morgenseiten, wie es die High Achiever auch machen, dann rolle ich mich auf die Matte und mache basic stretch, dann ist es plötzlich elf. Ich treffe meinen Freund auf Skype und wir machen zehn Minuten Vintage Aerobics mit Mr. Motivator, dann reden wir über Mr. Motivator und Fitness. Dann legen wir auf und ich frühstücke krass viel, weil ich megaviel Müsli gekauft habe, das sonst keiner isst, dann mache ich meine Steuer (ich starre auf meinen Computer und bin desperat und kriege ADHS), dann rufe ich viele Ärzte an und keiner geht ran, dann ist es 13 Uhr und ich gehe zu meiner Omi. Sie fragt, ob ich wieder so lange in der Disco war. Ich sage immer ja oder nein. Ihr Hirn braucht ein bisschen Abwechslung. Dann essen wir und gucken ein Fotoalbum an. Dann ist es drei und ich mache Besorgungen. Das dauert tierisch lange, weil die Vorsicht die Menschen entschleunigt. (Besonders die Frau am Spargelstand hinter ihrer unsichtbaren Wand ist vollständig entschleunigt. Als hätte sie Lepra.)
Dann ist es 16 Uhr und ich mache wieder meine Steuer oder maile oder probiere Schuhe in Größe 36 zu finden. Dann trinke ich Kaffee mit meiner Mama.
Dann gehe ich raus, um „Sonne zu tanken“, denn Vitamin D ist das wichtigste ÜBERHAUPT in diesen Zeiten. Dann vergesse ich, dass ich ja reichlich Kortison-Creme benutzt habe und mein Gesicht dünn und strukturell labil ist. Ich altere pro Tag um ein Jahr. Dann färbe ich mir die Haare und mache, während sie trocknen, eine Trampolin-Übung. Das erinnert mich muskulär daran, noch ein paar Ärzte anzurufen, aber jetzt ist es sechs.
Jetzt raste ich aus, dass ich noch nichts geschafft habe.
Ich werde komplett rastlos, mache eine Shaolin-Atemtechnik, lerne zehn Gebärden, vergesse neun, rufe in LA an und in Prag (das ungefähr fünfmal täglich) und lese in meinem Frankenstein Buch oder in meiner „Selbstanalyse für Anfänger“ gleichzeitig. Nun ist es 23:36. Ich raste noch mal aus und gehe dann ins Bett und denke:
Like a Boss möchte ich am Morgen sein.
c möchte die Zeit nutzen, um ein (Prozent) High Achiever zu werden.
Das heißt, ich muss mir meinen Tag strukturieren.