Seit Beginn des Schuljahres gehe ich einmal in der Woche in den Unterricht von Mathias Müller-Lenz, gebe dort für die gesamte Gruppe ein Aufwärm-Training zum Thema Stimme, um anschließend mit einer Kleingruppe von drei bis vier Schüler*innen intensiv an einer Ballade zu arbeiten.

Gemeinsam mit den Schüler*innen wird dann überlegt, an welchem Ort wir anschließend präsentieren wollen. Wir stellen uns viele Fragen: „Welche Strophe aus der Ballade interessiert uns besonders? Welche Bühnensituation kann dafür gefunden werden? Wie setzen wir unsere Stimme ein und wie unseren Körper? Wie kann eine Wand, ein Ast oder eine Treppe zu einem Spielpartner werden? Man kann sich anlehnen, abstoßen, in eine Ecke legen, gegen sie klopfen… Wann sprechen wir solo, wann im Chor? Wann sind wir für das Publikum sichtbar und wann nicht? Mit welchen Geräuschen kann gearbeitet werden? Gibt der uns umgebende Raum dafür Anregungen? Brauchen wir Requisiten? Wie lassen sie sich spontan finden?“
Viele Entscheidungen sind zu treffen und von daher fangen wir einfach an, gehen direkt in die Praxis und lassen uns leiten von dem, was wir finden. Im Anschluss laden wir die gesamte Klasse ein, sich das Ergebnis anzusehen. Bespielt wurden mittlerweile schon ganz unterschiedliche Orte: der Raum unter den Tischen im Klassenraum, die Feuertreppe, das Gebüsch im Schulgarten und die Wiese mit herunter gefallenem Laub – um nur einige zu nennen.

Auch das Publikum erlebte sich immer wieder in einer anderen Zuschauerposition: Es musste zum Beispiel einmal aus einem Treppenhaus von oben auf die Performer*innen schauen, ein ander Mal erlebte es umgekehrt die Performer*innen draußen über seinen Köpfen. Hier wurde die Feuertreppe zum Percussion-Instrument, deren metallischer Klang unterschiedlicher Höhen und Tiefen mit Besenstielen und Borsten entlockt wurde.

Wieder ein anderes Mal baten wir das Publikum, die Augen geschlossen zu halten, um den Wind besser zu spüren und einer Blätterklang-Performance zu lauschen, für die wir Performende uns zwischen den Lauschenden bewegten. Und wieder ein anderes Mal riefen wir dem Publikum zu, die Perspektive zu wechseln und dafür einen Weg entlang zu rennen. Es bekam Birnen zum Kosten.

Für mich selbst ist es jede Woche eine Überraschung, in welche Richtung wir arbeiten werden. Unlängst wurde ich mit Razia, Ante und Adrian aktiv. Die Textgrundlage bildete der „Zauberlehrling“ von Goethe. Wir entschieden uns für die mit Moos bewachsene Treppe im Schulgarten und baten das Publikum, aus den Fenstern des Kunstraumes zu schauen und diese zu öffnen.

Für das Publikum waren zunächst nur Hände sichtbar, die aus der Fensterbank emporwuchsen. Nach und nach bespielten wir den gesamten Raum, tauchten hinter der Treppe auf, nahmen durch die Fenster Blickkontakt mit den Zuschauenden auf, riefen „Walle, Walle!“ und verzauberten die gesamte Treppe …

Bei allen Darbietungen wurden die Sinne auf unterschiedliche Weise angesprochen – und auf die gesamte Ballade immer wieder ein neuer und überraschender Blick geworfen. Mir war es dabei ein Anliegen, dafür zu sensibilisieren, dass sich die performativen Künste schon lange nicht mehr nur im Guckkasten befinden, sondern dass Aufführungsorte überall gefunden werden können. Dazu gibt ein Schulgelände viele Möglichkeiten und es war sehr spannend für mich, mich selbst in jeder Stunde neu von den räumlichen Findungen und der Kreativität der Schüler*innen überraschen zu lassen.

Es macht mich dann natürlich auch sehr glücklich zu sehen, wie die Schüler*innen aus sich herausgehen und diese Arbeit immer selbstverständlicher annehmen. Auch, wenn dann nach jeder kleinen Präsentation mit Wertschätzung applaudiert wird. Für mich stelle ich dann jedes Mal fest: „Oh ja, das ist genau DIE Arbeit, die ich machen möchte!“

Da ist es fast schade, dass heute das bisher einzige Foto entstanden ist. Wir waren alle so gebannt und eingenommen im kreativen Tun, dass wir das Fotografieren schlichtweg vergessen hatten … Der Livemoment der Performance ist und bleibt das Besondere an dieser Kunstform. Dass dies mit viel Abstand draußen auf dem Gelände derzeit auch in Zeiten von Corona möglich ist – das ist ein Geschenk!

„Walle! Walle
Manche Strecke,
daß zum Zwecke
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße

Und nun komm du alter Besen!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen;
Bist schon lange Knecht gewesen,
nun erfülle meinen Willen!“

(aus: „Der Zauberlehrling“; J.W. Goethe)

Lisa Haucke (Fliegende Künstlerin)