„Nun sag, wie hast du`s mit der Kunst (sic)?“, höre ich in etwas abgewandelter Form Goethes Gretchen fragen. Ein semispannendes Schulfach, dessen Unterrichtszeit damit verstreicht, dass wir in unserer Mädchen-Tischgruppe unser scheiterndes Liebesleben erörtern, und am Ende der Stunde dabei angelangt sein werden, die Hoffnung auf den idealen Lebenspartner missmutig und endgültig aufzugeben. Das ist mein erster Gedanke, wenn ich an das gleichnamige Unterrichtsfach Kunst denke. Ganz nebenbei werden natürlich noch gedankenverloren die Pinsel geschwungen, die innerhalb von 90 Minuten die strahlend weiße Leinwand in einen Bach triefender Farbgemische verwandeln – eine authentische Darstellung unserer zerflossenen Zukunftsapokalypsen. Mit etwas Glück entlocken wir unserem entgeisterten Lehrer, der unseren Zugang zur Kunst zunächst  mit sprachloser Ungläubigkeit quittiert, ein erschöpftes „um ästhetische Ausdrucksfähigkeit der plastischen Materie bemüht“ und bringen die ersten beiden Stunden des langen Schultages mehr oder weniger erfolgreich hinter uns. In der Pause ein kurzer Abstecher ins Künstlerzimmer, und schon befinden wir uns in der künstlerischen Sphäre schlechthin. Aber ist das wirklich schon alles? Mangels traditioneller, künstlerischer Begabung ziehe ich den festen Entschluss, der abstrakten Kunst eine Chance zu geben. Diese im Schulalltag ausfindig zu machen, sollte sich als ein gar nicht so schwieriges Unterfangen erweisen. Dafür musste ich nur ca. zwanzig Minuten nach hinten zurückspulen.

Wir sitzen im Grundkurs Mathematik, Klasse 13. Ein hervorragendes Fach, um das Wesen der dynamischen Kunst in der ästhetischen Darstellung sich verformender Körper im Takt der analytischen Geometrie zu erfassen. Für die Entschlüsselung unserer Zugangsweise zur Mathematik braucht es nur etwas logische Fantasie.  Die Aufgabe: Stellen Sie mit den drei gegebenen Punkten A, B und C eine Ebenengleichung in Parameterform auf und geben Sie den Normalenvektor an. Die Umsetzung: ein auf dem Boden positionierter Richtungsvektor in Form eines schläfrigen Schülers, dem die angenehme Liegeposition am frühen Morgen wohl recht bekömmlich ist, eine zu besonders beeindruckenden Metamorphosen fähige Schülerin, die im Licht der prallen Nachmittagssonne einen vertikalen Sonnenstrahl imitiert, ein sportlicher Gentleman, der den zur Geraden mutierten Besenstiel galant gen Himmel richtet, fünfzehn weitere, in mathematische Kontemplation vertiefte Schüler*innen des Kurses, deren graue Gehirnzellen sich langsam zu einem Netz neuronaler Verknüpfungen entfalten, um den Bogen zwischen mathematischer Aerobic und vektorieller Paralleldimension aufzuspannen, und schließlich eine auf dem Schreitisch balancierende Lehrerin, die zufrieden den Überblick über die mathematische Maskerade behält. Das scheint mir ein Paradebeispiel für Kunst zu sein. Der waghalsige und zugleich elegante Spagat zwischen rationaler Eindeutigkeit und völliger Banalität, zwischen schleichender Erkenntnis und verzweifelter Kapitulation, zwischen schriftlichen Rechnungen und lebendiger Mathematik, zwischen Schmerzensschreien und unaufhaltsamer Freude über die sportliche Glanzleistung.

So hab ich´s mit der Kunst. Einen interessanten Anblick irgendeiner materiellen oder immateriellen Kreativität genießen, ein wenig darüber nachdenken, ein spekulatives Ergebnis hervorbringen, sich anschließend darüber wundern, warum die Sitznachbarin für x vier raus bekommt und ich Wurzel dreihundertsechsundzwanzigkommaachtsiebenPeriode, und dann auf die brillante Idee kommen, wenn Kunst mit Mathe funktioniert, warum dann nicht auch Mathe mit Deutsch? Normalität ist subjektiv! Einen richtigen Normalenvektor kann´s gar nicht geben. Ob das Lösungsheft das genauso sieht, ist fraglich…

Mathe ist und bleibt wohl eine Kunst für sich. 

Jessica (Schülerin)